Kernaussagen des Interviews
> Zeit als universelles Thema: Zeit prägt unser Leben und Arbeiten – wir sind ihr nie entkommen, aber wir können gestalten, wie wir mit ihr umgehen.
> Zeitkultur: Jede Gesellschaft und Organisation entwickelt eigene Rhythmen. Heute dominiert eine Kultur der Beschleunigung, die langfristig ungesund ist.
> Beschleunigung & Stress: Das Gefühl, dass die Zeit „immer schneller“ vergeht, entsteht durch äußere Anforderungen und innere Erwartungen. Dauerstress ist die Folge.
> Individueller Umgang: Zeitkompetenz bedeutet nicht „noch effizienter werden“, sondern Balance finden zwischen Beschleunigung und Entschleunigung.
> Organisationen & Arbeitswelt: In Unternehmen herrscht oft eine „Kultur der Dringlichkeit“. Notwendig sind Fokuszeiten, weniger Meetings und ein neues Verständnis von Zeit als Ressource.
> Gesellschaftliche Dimension: Zeitfragen betreffen Arbeit, Bildung, Stadtplanung und Demokratie. Nachhaltige Entwicklungen brauchen Entschleunigung.
> Persönliche Haltung: Auch Jonas Geissler selbst praktiziert bewusste Offline-Phasen und Pausen – nicht als Luxus, sondern als Voraussetzung für Kreativität und Wirksamkeit.
–> Kernbotschaft: Zeitkompetenz ist die Fähigkeit, Tempo und Entschleunigung bewusst auszubalancieren – individuell, organisatorisch und gesellschaftlich.
Das Transskript des Interviews
HR2: Herr Geissler, schön, dass Sie heute bei uns sind. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Zeit. Warum ist Zeit für Sie ein so wichtiges Forschungsfeld?
Jonas Geissler: Vielen Dank für die Einladung. Zeit ist etwas, das uns alle betrifft, wir können ihr nicht entkommen. Gleichzeitig merken wir, dass unsere Art, mit Zeit umzugehen, nicht immer gesund ist – weder individuell noch gesellschaftlich. Mich interessiert, wie wir Zeit erleben, wie Organisationen Zeit gestalten und welche Kulturen von Zeit wir entwickeln können, damit wir nicht permanent im Stress sind, sondern auch Spielräume und Freiräume haben.
HR2: Sie sprechen von „Zeitkultur“. Was meinen Sie damit genau?
Jonas Geissler: Zeitkultur beschreibt die Art und Weise, wie wir in einer Gesellschaft, in einer Organisation oder auch im Privaten mit Zeit umgehen. Also: Welche Rhythmen prägen uns? Wie sind Arbeit und Freizeit organisiert? Was gilt als „gute Nutzung“ der Zeit? Wir leben heute oft in einer sehr beschleunigten Zeitkultur – alles soll schneller, effizienter, dichter werden. Ich plädiere dafür, dass wir mehr Vielfalt zulassen: Langsamkeit, Muße, auch mal Leerlauf. Denn nur so entstehen Kreativität und wirklich nachhaltige Entwicklungen.
HR2: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Zeit immer schneller vergeht. Woher kommt dieses Gefühl?
Jonas Geissler: Das liegt einerseits an der Beschleunigung unserer Lebenswelt – Technologien, Kommunikation, Arbeitstempo. Andererseits auch daran, dass wir immer mehr in kürzerer Zeit erledigen wollen. Dieses „Mehr in weniger Zeit“ erzeugt das Empfinden, dass die Zeit uns davonläuft. Psychologisch gesehen ist es ein Zusammenspiel aus äußerem Druck und innerer Erwartung.
HR2: Heißt das, wir sind dem Tempo ausgeliefert?
Jonas Geissler: Nein, überhaupt nicht. Wir haben Gestaltungsspielräume. Natürlich gibt es Rahmenbedingungen – Deadlines, Meetings, digitale Kommunikation. Aber wir können sehr wohl entscheiden, ob wir permanent auf jede Nachricht sofort reagieren oder ob wir eigene Rhythmen entwickeln. Das fängt im Kleinen an: feste Fokuszeiten, Pausen ernst nehmen, bewusste Übergänge schaffen. So entsteht wieder ein Gefühl von Selbstbestimmung.
HR2: Und wenn das nicht gelingt? Viele berichten ja von Dauerstress.
Jonas Geissler: Dauerstress entsteht, wenn wir dauerhaft im „Alarmmodus“ leben, also ohne Unterbrechung in Beschleunigung. Unser Körper und Geist brauchen aber Phasen der Erholung. Wenn die fehlen, kippt es irgendwann in Erschöpfung. Deshalb ist es wichtig, individuelle Strategien zu entwickeln, aber auch Strukturen in Unternehmen und Institutionen zu verändern – hin zu einer gesünderen Zeitkultur.
HR2: Herr Geissler, Sie arbeiten auch mit Unternehmen. Was beobachten Sie dort, wenn es um Zeit geht?
Jonas Geissler: In vielen Organisationen ist Zeit ein knappes Gut. Projekte, Meetings, Abstimmungen – alles ist eng getaktet. Die Folge ist, dass Menschen zwar ständig beschäftigt sind, aber nicht unbedingt produktiv. Man könnte sagen: Es herrscht eine „Kultur der Dringlichkeit“, in der das Wichtigste oft liegenbleibt, weil das Dringendste dominiert.
HR2: Wie wirkt sich das auf die Mitarbeitenden aus?
Jonas Geissler: Sie fühlen sich gehetzt, überlastet und haben das Gefühl, nie wirklich fertig zu werden. Gleichzeitig sinkt die Qualität der Arbeit, weil Reflexion und Nachdenken zu kurz kommen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass zu viele Unterbrechungen und zu viel Multitasking die Effizienz deutlich reduzieren. Im Grunde verlieren Unternehmen dadurch genau das, was sie eigentlich gewinnen wollen: Leistung und Innovation.
HR2: Was wäre ein Ausweg aus diesem Dilemma?
Jonas Geissler: Ein erster Schritt ist, bewusst mit der Ressource Zeit umzugehen – also Prioritäten zu setzen und nicht alles gleichzeitig zu wollen. Auf organisatorischer Ebene heißt das zum Beispiel: klare Fokuszeiten, weniger Meetings, mehr Entscheidungskompetenz in Teams. Auf kultureller Ebene geht es darum, dass Entschleunigung nicht als Schwäche gilt, sondern als Voraussetzung für gute Arbeit.
HR2: Und was können Einzelne tun, um ihren eigenen Umgang mit Zeit gesünder zu gestalten?
Jonas Geissler: Zunächst einmal Bewusstsein schaffen: Wie verbringe ich eigentlich meine Zeit? Wofür geht sie drauf, und entspricht das meinen Werten und Zielen? Viele merken erst im Rückblick, dass sie in Routinen gefangen sind, die ihnen gar nicht guttun. Dann geht es darum, kleine Veränderungen einzubauen: Handyfreie Zeiten, Pausenrituale, bewusstes Atmen, mehr Nein-Sagen. Diese Mikroentscheidungen haben enorme Wirkung.
HR2: Das klingt nach klassischem Zeitmanagement?
Jonas Geissler: Teilweise, ja. Aber mir geht es weniger um Optimierung im Sinne von „noch mehr in weniger Zeit“, sondern um eine Haltung: Zeitkompetenz bedeutet, zwischen Beschleunigung und Entschleunigung zu balancieren. Also zu wissen, wann Tempo wichtig ist – und wann Langsamkeit.
HR2: Herr Geissler, wenn wir von individueller Zeitkompetenz sprechen, stellt sich ja auch die Frage: Wie sieht das auf gesellschaftlicher Ebene aus?
Jonas Geissler: Genau. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Beschleunigung oft als Fortschritt verstanden wird. Aber das hat Grenzen – ökologisch, sozial, auch politisch. Wenn wir immer nur schneller, effizienter, produktiver sein wollen, verlieren wir auf lange Sicht den Blick für Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Deshalb brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte darüber, welche Zeitkultur wir fördern wollen.
HR2: Was heißt das konkret?
Jonas Geissler: Zum Beispiel: Wie organisieren wir Arbeit, Bildung, Pflege? Wie gestalten wir Stadtplanung oder Mobilität? Überall dort stecken Zeitfragen drin. Eine „zeitgemäße Gesellschaft“ ist für mich eine, die nicht nur wirtschaftliche Effizienz im Blick hat, sondern auch Lebensqualität. Das bedeutet: Räume für Begegnung, Zeit für Beziehungen, Zeit für demokratische Prozesse.
HR2: Und wie realistisch ist das?
Jonas Geissler: Es ist anspruchsvoll, keine Frage. Aber wir sehen ja bereits Gegenbewegungen: Debatten über Arbeitszeitverkürzung, über Slow Food, über Achtsamkeit. All das sind Signale, dass Menschen spüren: Wir brauchen mehr Balance. Es geht also nicht darum, Beschleunigung abzuschaffen – sondern sie zu ergänzen durch Entschleunigung.
HR2: Zum Schluss, Herr Geissler: Wenn Sie selbst auf Ihr Leben schauen – wie gehen Sie persönlich mit Zeit um?
Jonas Geissler: Auch ich bin nicht frei von den Dynamiken, über die wir gesprochen haben. Aber ich versuche, bewusste Entscheidungen zu treffen. Etwa: feste Zeiten, in denen ich offline bin, oder Phasen, in denen ich mir bewusst Leerlauf gönne. Für mich ist das kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Und ich merke, dass ich dadurch klarer, kreativer und letztlich auch wirksamer bin.
HR2: Das klingt, als ob es vor allem auf die Balance ankommt.
Jonas Geissler: Ja, absolut. Zeitkompetenz heißt für mich: nicht nur getrieben sein, sondern auch gestalten. Zwischen Schnelligkeit und Langsamkeit, zwischen Arbeit und Muße, zwischen Pflicht und Freiheit. Wenn wir diese Balance kultivieren – individuell wie gesellschaftlich –, dann haben wir eine gute Chance auf eine lebenswerte Zukunft.