Der Zeit kann man ohnehin nicht entkommen. Daher sollten wir einen entspannten Umgang mit ihr pflegen – alles andere sorgt für Frust. Wie auch Jonas Geißler immer wieder feststellt. Als Sohn des deutschen Zeitforschers Karlheinz A. Geißler wurde ihm die Beschäftigung mit diesem Thema in die Wiege gelegt. Er berät Organisationen, hält Vorträge und Seminare über die Zeit, dieses wundersame Ding.
Trügt der Eindruck oder wird über die Zeit mindestens genauso oft geklagt wie über das Wetter?
Über beides lässt sich gut schimpfen. Tatsächlich stehen Zeit und Wetter in engem Bezug zueinander. In den roma- nischen Sprachen steht dasselbe Wort für Zeit und Wetter. „Tempo“ im Italienischen zum Beispiel. Wenn jemand klagt, dass er zu wenig Zeit habe, dann hat man sofort einen gemeinsamen Nenner für ein Gespräch. Wahrscheinlich wird selten jemand darüber klagen, dass er zu viel Zeit hat. Zumindest würde derjenige das kaum zugeben.
Warum ist das so?
Wer zu viel Zeit hat, der steht in unserer Beschleunigungsgesellschaft schnell einmal im Verdacht arbeitslos zu sein, im Pflegeheim oder in einer Justizvollzugsanstalt zu sitzen. Auf der anderen Seite sind die, die keine Zeit haben, die Erfolgreichen, Tüchtigen, die die dazugehören. Deshalb muss man sich das ab und zu vergegenwärtigen und nach außen kommunizieren.
Was sagt das über unser Verständnis von Zeit aus?
Zeit ist für viele ein Aggressionspunkt. Als wäre sie etwas, das man bekämpfen müsste. Das macht natürlich etwas mit unserem Zeitverhalten, wie man Zeit bewertet und letztendlich, wie zufrieden man im Leben ist.
Geht das auf die Annahme zurück, die Zeit beherrschen zu können?
Die Zeit ist einfach da. Man kann sie nicht beherrschen. Man kann nur sich selbst beherrschen und andere. Man kann Tätigkeiten beherrschen, aber mit der Zeit können wir überhaupt nichts machen, außer sie zu leben. Deshalb ist auch der Begriff „Zeitmanagement“ so irreführend. Denn wir können uns selbst und unsere Aufgaben organisieren, das hat aber nur Auswirkungen auf das Zeitgefühl und auf unser Verhalten in der Zeit. Selbst bei der Zeitumstellung, handelt es sich nur um eine Uhrumstellung. Daran erkennt man gut, dass wir das eine mit dem anderen gerne verwechseln. Dabei sind das zwei völlig unterschiedliche Dinge.
Sie sprechen damit den vielzitierten „Kampf gegen die Zeit“ an.
Die Vorstellung Zeit ist gleich Uhrzeit ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Das haben wir gelernt, seit vor rund 600 Jahren die mechanische Uhr erfunden wurde. Um es mit den Worten von Hartmut Rosa von der Uni Jena zu sagen: „Die Uhr hat die Zeit verfüg- und nutzbar gemacht“. Vor allem dann, wenn man sie mit Geld verrechnet. Damit ist das Bild in unseren Köpfen drin, dass Zeit etwas sei, das man messen kann. Vor der Erfindung der Uhr verschwendete man keinen Gedanken daran, dass man die Zeit messen und bewirtschaften kann. Wer es im antiken Rom eilig hatte, war klar als Sklave zu erkennen.
Das hat sich mit der Erfindung der mechanischen Uhr gewandelt?
Heute würde man sagen, das war eine disruptive Innovation. Eine Technologie, die ein neues Verständnis von Zeit mit sich brachte. Gott und die Natur flogen raus, das Geld kam ins Spiel. So wurde die Zeit durch die mechanische Uhr leer gemacht. Sie wurde zu einer reinen Quantität, die
unabhängig existierte und funktionierte. Damit kam auch eine neue Qualität in die Zeit – das Geld. Nicht zufällig entstanden kurz nach der Erfindung der mechanischen Uhr die ersten Banken in Italien.
Aber niemand verwechselt die Landkarte mit der Landschaft, wie Sie es so treffend in Ihrem Buch „Time is Honey“ formulieren. Warum geschieht dies analog mit der Uhr und der Zeit?
Es gibt die einen, die sagen: Zeit ist das, was auf der Uhr abzulesen ist. Die anderen sagen: Zeit ist das, was ich habe, wenn ich die Uhr wegschmeiße.
Ein Leben ohne Uhrzeit stellt sich aber vermutlich sehr kompliziert dar.
Man wird durch soziale Konventionen dazu gezwungen, mit der Uhrzeit zu leben. Unsere Hypothese ist auch, dass in einer verdichteten, postmodernen Zeit, wo die Digitalisierung der bestimmende Faktor ist, die Bedeutung der Uhr abnimmt. Wir stellen eine Rückkehr zum Rhythmus fest.
Was heißt das?
Der Arbeitsalltag wird mit Gleitzeit, Home Office, etc. individueller und auch flexibler. Man arbeitet dann, wenn man leistungsfähig ist. Das muss aber nicht nur Vorteile bringen. Denn man orientiert sich daran, was gerade reinkommt, etwa Push-Nachrichten, die eine gewisse Dringlichkeit vermitteln. Man kommt damit schnell in einen On-Demand-Modus und in den Zwang zu reagieren. Das kann wieder zu Unzufriedenheit führen.
Liegt das auch daran, dass die Menschen immer ungeduldiger werden? Man erwartet rasche Antworten auf E-Mails, Whatsapp-Nachrichten…
Weil es technisch möglich ist, knüpfen sich daran bestimmte Erwartungen, zum Beispiel an Reaktionszeiten. Dadurch entstehen Beschleunigungszirkel und Spielregeln, was etwa die Antwortzeit auf eine E-Mail betrifft. Ich rate dazu, sich nicht auf dieses Spiel einzulassen, immer sofort auf alles reagieren zu müssen.
Dennoch ist es schwer, nicht aufs Handy zu schauen, wenn es wieder einmal vibriert…
Wir sind machtlos gegen das Belohnungszentrum im Gehirn: Wir sehen, es kommt etwas rein, und schon drängt es uns, nachzuschauen. Um das zu ignorieren, muss man schon sehr viel Energie aufwenden, die einem dann bei der eigentlichen Tätigkeit fehlt. Daher die Faustregel: Vermeiden Sie Situationen, indenen Sie sich selbst kontrollieren müssen.