Zeit gewinnen? Zeit verlieren? – Artikel von Jonas Geissler in „einfach leben“ (Herder)

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Zeit gewinnen? Zeit verlieren?
Wenn Zeit Leben ist, haben wir bereits gewonnen:
Jeden Tag einen Tag Zeit. Ein ganzes Leben lang.

Link zum Heft:
„einfach leben – wie die Zeit vergeht“ (Herder, Nr. 5/2024)

Wenn Zeit Geld ist
Die weit verbreitete Vorstellung, dass man Zeit sparen, verlieren, managen und in den Griff bekommen kann, ist mit der Erfindung der Uhr in unser Leben gekommen: Die Zeit entspricht dem Takt der Uhr. Das „Eins nach dem Anderen,“ das Tick und Tack, wird als Maßstab für die Zeit genommen. Dieser Vorstellung nach ist sie eine Messgröße, mit der sich rechnen lässt. Zeit wird in dieser Logik wertvoll. Wir verrechnen sie in Geld und beschleunigen, damit wir aus weniger Zeit mehr Geld machen können. Da Geld kein Genug kennt, hört auch die Beschleunigung nicht auf. Aus dieser Perspektive heraus ist klar, was es heißt, Zeit zu gewinnen oder zu verlieren. Es geht um ökonomischen Gewinn oder Verlust. Die Zeit wird verfügbar und beherrschbar gemacht. Wir behandeln sie als ein wirtschaftliches Gut.

 

Jenseits des Maschinen-Maßes
Jedoch ist der Takt der Uhr das tote Zeitmaß einer Maschine. Die Fokussierung auf die Formel „Zeit ist Geld“ verschafft uns zwar Geld- und Güterwohlstand, sie macht uns aber zugleich ärmer an denjenigen Zeiten, die sich eben nicht in Geld verrechnen lassen. Durch die Verfügbarmachung der Zeit entsteht ein aggressives Verhältnis zu ihr (Zeit in den Griff bekommen, Zeit totschlagen, etc.). Das gelingende Leben, die zeitsatte und zufrieden machende Zeiterfahrung findet man aber jenseits der Uhr.

Beobachten Sie einmal Kinder bei ihrem Umgang mit Zeit. Vermutlich werden Sie keine Sätze hören wie „ich muss mich beeilen, in 15 Minuten muss die Legostation aufgebaut sein.“ Kindern, sofern sie noch nicht die Uhr lesen können und die Zeitvorstellung der Erwachsenen übernommen haben, leben in der Ereigniszeit. Die Dinge dauern so lange wie sie dauern. Was zählt ist das Hier und Jetzt. Zukunft, Fortschritt, Entwicklungspläne sind unwichtig – und das obwohl Kinder sich jeden Tag weiter entwickeln. Hierfür sind aber keine Pläne verantwortlich, sondern Neugier, Freude und das unmittelbare Erleben.

 

Lebendige Zeitqualitäten
Die Qualität der erlebten Zeiterfahrung, die Ereigniszeit, ist nicht taktförmig, wie die Uhr, sondern rhythmisch. Eine lebendige Zeit mit Abweichungen, Kurven, Umwegen und einer Vielfalt an Zeitqualitäten. Sie ist bunt, nicht kontrollierbar und entzieht sich dem Impuls die Zeit zu messen und zu verrechnen. Ein gutes Gespräch unter Freund*innen, das Spielen mit den eigenen Kindern oder das Candle-Light-Dinner, all diese Zeiterfahrungen würden ihre Qualität sofort einbüßen, wenn sie mit der Stoppuhr vermessen und ihr monetärer Wert ermittelt würde. Romantik, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Freude, all diese, für gelingendes Leben nicht unwesentlichen Zeitqualitäten, finden jenseits der Uhr statt. Zeit ist demnach nämlich nicht länger Geld, sondern Leben. Und deshalb haben Sie bereits gewonnen. Jeden Tag einen Tag Zeit. Ein ganzes Leben lang.

Das Schöne an dieser Perspektive ist, dass Sie Zeit auch nicht verlieren können. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, was Sie mit der Zeit anstellen sollen, denn Sie können mit der Zeit nur eine Sache tun: sie leben.

 

Was an ein Wunder grenzt
Wenn man Zeit mit Leben gleichsetzt, ergibt sich eine völlig andere Vorstellung davon, was es heißt Zeit zu gewinnen oder zu verlieren. Wenn wir unser Leben verlieren, sind wir tot. Wenn Sie diese Zeilen lesen, können Sie sich aber sicher sein, dass Sie bereits Zeit gewonnen haben. Und das ist gar nicht so wahrscheinlich, wie Sie vielleicht meinen. Alleine die Tatsache, dass Sie in diesem Universum auf einem Planeten Ihre Zeit verbringen, auf dem Leben überhaupt möglich ist, ist extrem unwahrscheinlich. Zugleich grenzt es an ein Wunder, dass im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung Leben entstanden ist und sich die menschliche Spezies herausgebildet und überdauert hat. Wenn man das mit der enorm hohen Unwahrscheinlichkeit multipliziert, dass Sie es sind, der/die aus der Befruchtung einer Eizelle hervorgegangen ist, dann dürfen Sie sich wirklich einmal selbst zu diesem höchst unwahrscheinlichen Zeitgewinn beglückwünschen. Falls Sie das noch nicht getan haben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.

 

Gelingendes Leben und begrenzte Lebenszeit

Nun ja, und jetzt sind wir natürlich gespannt, was Sie mit diesem Gewinn anstellen werden.
Was? Sie wollen die gewonnene Zeit nutzen, um noch mehr Zeit zu gewinnen?
Das ist ja seltsam. Dabei können Sie doch gar nicht mehr Zeit gewinnen. Das klingt nach einem Vorhaben, bei dem Sie nur verlieren können. Damit wäre ich vorsichtig!

Obwohl Sie der glückliche Zeitgewinner bzw. die glückliche Zeitgewinnerin sind, so ist Ihr Gewinn natürlich nicht endlos. Ihre Lebenszeit ist begrenzt. Diese Tatsache ist überhaupt der Grund weswegen wir uns mit Zeit beschäftigen. Wären wir unsterblich, würde die Zeit vermutlich keine Rolle spielen. So aber ist es nicht. Unsere eigene zeitliche Begrenzung schafft erst den Rahmen für zeitliches Gewinn- und Verlustdenken – und hängt eng mit unseren Vorstellungen eines gelingenden Lebens zusammen.


Überfordert durch Erwartungen
Die Begrenzung der eigenen Lebenszeit in Kombination mit der Multioptionswelt, die uns die  Beschleunigung der „Zeit ist Geld Logik“ beschert hat, führt dazu, dass uns das eigene Leben häufig als zu knapp, zu kurz bemessen für die vielen Möglichkeiten erscheint. So wird das eigene Leben auf einmal zur „letzten Gelegenheit“ (Marianne Gronemeyer). Dieser Vorstellung nach ist es wie ein Gefäß, das mit möglichst vielen Ereignissen und Erlebnissen gefüllt werden soll. Niklas Luhmann hat diesen Sachverhalt zum Ausdruck gebracht: „Zeit ist gar nicht knapp. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht durch die Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.“ Damit hatte er recht. An den vielen Möglichkeiten, die uns das spätmoderne Leben eröffnet, hängen immer auch legitime Erwartungen diese wahrzunehmen und möglichst gut auszunutzen. Doch je mehr möglich ist, desto mehr müssen wir entscheiden und desto mehr werden wir verpassen. Zusätzlich wird der Druck zwischen den Optionen zu wählen dadurch erhöht, dass von außen Erwartungen an uns und unsere Zeit gestellt werden. So wird aus der Freiheit der Wahlmöglichkeiten der Zwang zu Entscheidungsnotwendigkeiten. Haben wir zusätzlich den Anspruch zwei Leben in einem zu leben, so laufen wir Gefahr, beide im Strudel der Hektik zu verpassen. Diesem Anspruch nach hieße Zeit gewinnen, so viel wie möglich in seine Zeit zu stopfen, von einem Termin zum nächsten zu hetzen und bloß darauf zu achten, keine Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Jede Minute, die nicht im Sinne der „Zeit ist Geld“-Logik“ gefüllt ist, wäre demnach verlorene Zeit.

„Das Individuum sieht sich zunehmend zwischen den Anforderungen von außen und den eigenen Erwartungen an ein glückliches, eigenverantwortliches Leben überfordert und wird zum erschöpften Selbst.“ (Alain Ehrenberg). Ein Weg hinaus aus dieser Spirale führt über die Akzeptanz der eigenen Begrenztheit. Konfuzius hat dies einmal schön auf den Punkt gebracht: „Wir haben zwei Leben. Das zweite beginnt, sobald wir realisieren, dass wir nur eins haben.“

 

Das „nie genug“ überwinden
Diese Perspektive birgt die Chance auf einen ganz anderen Umgang mit Zeitgewinnen und     -verlusten. Sie überwindet den Imperativ des „nie genug“ und strebt eine maßvolle Zeitverwendung an. Sie akzeptiert, dass wir eh niemals fertig werden und es stets mehr Optionen als verfügbare Lebenszeit gibt. Demnach sind wir (schon immer) Meister*innen des Verpassens. Als Gradmesser für diese Form des „Genugs“ kann die Kapazität des Bewussten Erlebens dienen. Schaffen wir es demnach, die Anzahl an Objekten und Optionen so zu begrenzen, dass wir selbige voll auskosten und wahrnehmen können? Damit würden wir die Voraussetzung schaffen, um selbstwirksam mit ihnen Zeit zu verbringen.

Beim Versuch möglichst viel zu gewinnen, verlieren wir allzu oft das einzige, was wir im Grunde haben: das bewusste Erleben des Augenblicks. Leben findet immer nur Jetzt statt. Ist dieses Jetzt stets auf einen zukünftigen Gewinn hin ausgerichtet, dessen Eintreten aber ungewiss ist, so verlieren wir die Qualität des akuten Erlebens. „Anstatt das Leben in der Zeit sich entfalten zu lassen und einfach zu sein, wird jeder Moment nach dem Nutzen für eine unbestimmte Zukunft hin bewertet.(…) Das macht es fast unmöglich, tiefe Zeiterfahrungen (zeitlose Zeit) zu machen, in denen wir völlig in der Zeit aufgehen.“ (Oliver Burkeman).

 

Stunden, die im Leben wirklich zählen
Das, was das Leben ausmacht lässt sich nicht in einer Excel-Liste darstellen. Oder haben Sie schon einmal eine Kalkulation zur Liebe, dem Vertrauen, der Freude oder der Zuversicht gesehen? Der Reiz des Lebens liegt in der Unverfügbarkeit seiner Zeitqualitäten. Die Chance selbige zu erleben erhöhen wir vor allem über das „Lassen.“ Es geht um das „Sich-einlassen“ und auch eine gute Portion „Ge-Lassenheit,“ um sich von den Impulsen der Mitwelt berühren zu lassen. Allzu viel tun müssen wir hierzu gar nicht. Es geht eher um ein Wahrnehmen und Antworten, statt eines Planens und Kontrollierens. Eine Vorstellung von Zeit, die dies fördert, lässt sich eher als „in der Zeit sein“ oder „selbst die Zeit sein“ beschreiben. Die damit verbundene Haltung kann als „gelöste Fokussiertheit“ oder „planvolle Planlosigkeit“ beschrieben werden. Sie ist irgendwo zwischen aktivem Kontrollieren und passivem Geschehenlassen angesiedelt. Sie gestaltet, fordert aber die eigenen Pläne nicht ein, sondern öffnet sich für das, was der Fluss der Zeit bringt, um dann selbstwirksam darauf zu reagieren. Und sie akzeptiert auch, dass dies kein Garant für eine erfüllte Zeit ist. Sie lädt ein, besteht aber nicht auf den Besuch. Und sie verzichtet darauf, zu rechnen und zu messen. Denn die Stunden, die im Leben zählen sind jene, die wir nicht zählen.

In diesem Sinne: gute Zeiten!