Zeit gewinnen? Zeit verlieren?
Wenn Zeit Leben ist, haben wir bereits gewonnen:
Jeden Tag einen Tag Zeit. Ein ganzes Leben lang.
Link zum Heft:
„einfach leben – wie die Zeit vergeht“ (Herder, Nr. 5/2024)
Wenn Zeit Geld ist
Die weit verbreitete Vorstellung, dass man Zeit sparen, verlieren, managen und in den Griff bekommen kann, ist mit der Erfindung der Uhr in unser Leben gekommen: Die Zeit entspricht dem Takt der Uhr. Das „Eins nach dem Anderen,“ das Tick und Tack, wird als Maßstab für die Zeit genommen. Dieser Vorstellung nach ist sie eine Messgröße, mit der sich rechnen lässt. Zeit wird in dieser Logik wertvoll. Wir verrechnen sie in Geld und beschleunigen, damit wir aus weniger Zeit mehr Geld machen können. Da Geld kein Genug kennt, hört auch die Beschleunigung nicht auf. Aus dieser Perspektive heraus ist klar, was es heißt, Zeit zu gewinnen oder zu verlieren. Es geht um ökonomischen Gewinn oder Verlust. Die Zeit wird verfügbar und beherrschbar gemacht. Wir behandeln sie als ein wirtschaftliches Gut.
Jenseits des Maschinen-Maßes
Jedoch ist der Takt der Uhr das tote Zeitmaß einer Maschine. Die Fokussierung auf die Formel „Zeit ist Geld“ verschafft uns zwar Geld- und Güterwohlstand, sie macht uns aber zugleich ärmer an denjenigen Zeiten, die sich eben nicht in Geld verrechnen lassen. Durch die Verfügbarmachung der Zeit entsteht ein aggressives Verhältnis zu ihr (Zeit in den Griff bekommen, Zeit totschlagen, etc.). Das gelingende Leben, die zeitsatte und zufrieden machende Zeiterfahrung findet man aber jenseits der Uhr.
Beobachten Sie einmal Kinder bei ihrem Umgang mit Zeit. Vermutlich werden Sie keine Sätze hören wie „ich muss mich beeilen, in 15 Minuten muss die Legostation aufgebaut sein.“ Kindern, sofern sie noch nicht die Uhr lesen können und die Zeitvorstellung der Erwachsenen übernommen haben, leben in der Ereigniszeit. Die Dinge dauern so lange wie sie dauern. Was zählt ist das Hier und Jetzt. Zukunft, Fortschritt, Entwicklungspläne sind unwichtig – und das obwohl Kinder sich jeden Tag weiter entwickeln. Hierfür sind aber keine Pläne verantwortlich, sondern Neugier, Freude und das unmittelbare Erleben.
Lebendige Zeitqualitäten
Die Qualität der erlebten Zeiterfahrung, die Ereigniszeit, ist nicht taktförmig, wie die Uhr, sondern rhythmisch. Eine lebendige Zeit mit Abweichungen, Kurven, Umwegen und einer Vielfalt an Zeitqualitäten. Sie ist bunt, nicht kontrollierbar und entzieht sich dem Impuls die Zeit zu messen und zu verrechnen. Ein gutes Gespräch unter Freund*innen, das Spielen mit den eigenen Kindern oder das Candle-Light-Dinner, all diese Zeiterfahrungen würden ihre Qualität sofort einbüßen, wenn sie mit der Stoppuhr vermessen und ihr monetärer Wert ermittelt würde. Romantik, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Freude, all diese, für gelingendes Leben nicht unwesentlichen Zeitqualitäten, finden jenseits der Uhr statt. Zeit ist demnach nämlich nicht länger Geld, sondern Leben. Und deshalb haben Sie bereits gewonnen. Jeden Tag einen Tag Zeit. Ein ganzes Leben lang.
Das Schöne an dieser Perspektive ist, dass Sie Zeit auch nicht verlieren können. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, was Sie mit der Zeit anstellen sollen, denn Sie können mit der Zeit nur eine Sache tun: sie leben.
Was an ein Wunder grenzt
Wenn man Zeit mit Leben gleichsetzt, ergibt sich eine völlig andere Vorstellung davon, was es heißt Zeit zu gewinnen oder zu verlieren. Wenn wir unser Leben verlieren, sind wir tot. Wenn Sie diese Zeilen lesen, können Sie sich aber sicher sein, dass Sie bereits Zeit gewonnen haben. Und das ist gar nicht so wahrscheinlich, wie Sie vielleicht meinen. Alleine die Tatsache, dass Sie in diesem Universum auf einem Planeten Ihre Zeit verbringen, auf dem Leben überhaupt möglich ist, ist extrem unwahrscheinlich. Zugleich grenzt es an ein Wunder, dass im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung Leben entstanden ist und sich die menschliche Spezies herausgebildet und überdauert hat. Wenn man das mit der enorm hohen Unwahrscheinlichkeit multipliziert, dass Sie es sind, der/die aus der Befruchtung einer Eizelle hervorgegangen ist, dann dürfen Sie sich wirklich einmal selbst zu diesem höchst unwahrscheinlichen Zeitgewinn beglückwünschen. Falls Sie das noch nicht getan haben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.