Warum rennt die Zeit uns manchmal davon? Im Interview verrät Zeitforscher Jonas Geißler, wie wir im Alltag besser damit umgehen und mit welchen Tricks sich das Leben länger anfühlt.
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Von Carolin Rückl
31.12.2023, 12:02 Uhr
Herr Geißler, bald ist 2023 vorbei. Warum hat man am Ende eines Jahres oft das Gefühl, dass es wie im Flug vergangen ist?
Weil vermutlich viel passiert ist – aber nicht viel Neues. Wirklich tiefgreifende Erfahrungen dehnen unser Zeitempfinden, Schicksalsschläge zum Beispiel, oder biografisch einschneidende Ereignisse wie ein neuer Job oder ein Sabbatical. In unserem Alltag sind wir aber oft sehr vielen kleineren, schnell aufeinanderfolgenden Reizen ausgesetzt: Noch schnell etwas fertig machen, hier klingelt was, da ruft jemand an. Unser Gehirn kennt diese Reize schon, hakt sie ab, wir wissen, was zu tun ist. Und so kann sich ein sehr volles Leben trotzdem so anfühlen, als würde es sehr schnell vergehen.
Warum ist das so?
Es gibt ein Paradoxon in unserer Zeitwahrnehmung: Neues kommt uns sehr kurz vor, wenn wir es erleben. In der Rückschau wirkt es sehr lang. Zwei Wochen Urlaub können zum Beispiel schnell vergehen, wenn wir vielen wirklich neuen Reizen ausgesetzt sind. Rückblickend haben wir aber das Gefühl, viel erlebt zu haben.
Genau andersherum ist es, wenn wenig Neues passiert: Die Tage ziehen sich dahin und rückblickend wirkt es, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen. Dieses Gefühl hatten viele während der Pandemie.
Ich habe oft das Gefühl, dass meine Tage schnell vergehen und sich auch im Rückblick kurz anfühlen.
Das liegt daran, dass wir mit der Digitalisierung ein neues Muster in der Zeitwahrnehmung sehen: Im Erleben und in der Rückschau kurz. Ich will nur kurz auf die Uhr gucken, nehme mein Smartphone und wache eine Dreiviertelstunde später auf meinem Instagram-Profil wieder auf. Dort passiert unglaublich viel, aber nichts wesentlich Neues. Es hinterlässt keine wesentlichen Zeit-Spuren, wenn ich nur von einem Reiz zum nächsten wische. Das beeinflusst massiv unser Zeitempfinden: Es ist eine lebensverkürzende Maßnahme.
Was kann man tun, damit sich das Leben länger anfühlt?
Neugierig sein und sich dem Neuen öffnen. Fangen Sie etwas an, das für Sie wesentlich ist – eine Sportart z.B., lernen Sie ein Instrument oder eine Sprache. Das sind Dinge, bei denen wir direkt Erfolg und Weiterentwicklung erleben. Das lässt uns die Zeit länger erscheinen. Wir können da viel von Kindern lernen: Sie sind extrem offen für Neues, lernen im zarten Alter von drei Jahren etwas so Komplexes wie eine Sprache, gleichzeitig schwierige Bewegungsabläufe, soziale Strukturen. Ihr Lerndünger ist Freude und Neugier. Das ist etwas, das uns als Erwachsenen, die wir in viele Routinen eingebunden sind, oft abhandenkommt – das wir uns aber zurückholen können.
Wie denn?
Meine, zugegeben etwas steile, Hypothese ist: Sobald wir lernen, die Uhr zu lesen, hört die Kindheit auf. Ab diesem Zeitpunkt richten wir uns nach einem externen, völlig abstrakten Mechanismus aus: der Uhrzeit, dem standardisierten Zeitmuster einer toten Maschine. Uhrzeit ist gereinigt von jeglicher Qualität. Wir wissen nicht, ob 14 Uhr schön ist oder hässlich, Spaß macht oder nicht. Kinder leben dagegen viel mehr in der „Ereigniszeit“: Sie erleben ein Ereignis im Moment, egal wie lange das dauert. Das können wir auch als Erwachsene tun, indem wir uns auf das Hier und Jetzt einlassen. Wenn wir ständig das Jetzt zugunsten eines zukünftigen Moments opfern, von dem nicht sicher ist, ob er eintritt, verpassen wir unser Leben. Selbst wenn der Moment kommt, sind wir schon wieder einen Schritt weiter in der Zukunft.
Hilft der Fokus auf den Moment dabei, mehr aus seiner Zeit zu machen?
Präsenz im Moment ermöglicht tiefgreifende, neue Erfahrungen – und verlängert so gesehen die Lebenszeit. Aber mit Formulierungen wie „mehr aus seiner Zeit rausholen“ oder „ Zeit sinnvoll nutzen“ sollte man aufpassen. Das kommt von der Vorstellung, dass Zeit Geld sei. Mit der Einführung der Uhrzeit haben wir Zeit sichtbar und damit verfügbar gemacht. Wir können sie beherrschen, bewirtschaften und verrechnen. Wer das internalisiert, verrechnet auch sein Erleben mit Geld – dabei ist es ein großer Unterschied, ob meine Tage nur gefüllt oder auch erfüllt sind. Ein erfülltes Leben entsteht, um mit Hartmut Rosa zu sprechen, durch Resonanz, eine Antwortbeziehung zwischen mir und meiner Mitwelt. Die erste Resonanzerfahrung erleben wir noch vor der Geburt, eingebunden in den Mutterleib. Später können wir Resonanz erfahren, indem wir in einen direkten Austausch mit unserer Umwelt treten, dies kann z.B. eine gutes Gespräch mit Freunden, Kunden oder Kollegen sein, aber auch das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit beim Lesen, Programmieren, Schreiben, Musizieren, Tanzen, etc. So erfahren wir Verbundenheit und Selbstwirksamkeit. Eine solche Zeiterfahrung lässt sich aber nicht verfügbar machen. Man kann sie nicht erzwingen. Ähnlich wie Muße stellt sie sich von selbst ein, wenn ich sie lasse.
Wie lässt man zu, dass sich Resonanz einstellt?
Indem man lernt, loszulassen. Es geht um Absichtslosigkeit und darum, mit der Zeit zu gehen, statt sie in den Griff bekommen zu wollen. Oft ist der Default-Mode, leere Zeit sofort füllen. Mit meinen Seminarteilnehmern machen ich manchmal ein Experiment: Ich höre unangekündigt eine Stunde früher auf. Solche Situationen, ohne Termin und Plan, kennen wir alle. Damit kann man experimentieren: Reize drastisch reduzieren, das Handy weglegen. Sich ohne schlechtes Gewissen unverzweckte Zeit ermöglichen. Ein bisschen dösen, ein bisschen grübeln, oder flanieren. Gehen, um zu gehen, und nicht, um von A nach B zu kommen. Das tut total gut und schafft Raum für Resonanz. Denn Resonanzerfahrungen kann ich nicht planen. Ich kann mich ihnen nur öffnen, zum Beispiel, indem ich mit anderen Menschen in Kontakt trete. Der Ökonom Otto Scharmer nennt das „Presencing“, eine Mischung aus fühlen und Präsenz: Ich bin im Moment und werde mir der entstehenden Zukunft gewahr, indem ich weniger vorhersage und kontrolliere, und mehr spüre und auf das reagiere, was ich im Moment wahrnehme. Sich absichtslos dem zu öffnen, was im Entstehen ist – so könnte man es zusammen fassen.