In Pfeffer&Salz, Ausgabe November 2020, Interview von Matthias Weißmann
Wir brauchen Sie, wie Fische das Wasser
Zeitforscher Jonas Geissler über den Genuss im Takt der tickenden Zeiger
Zeit kann man nicht aufhalten. Das wird spätestens beim Blick auf den Sekundenzeiger klar, denn dieser tickt einfach immer weiter. Batterien rausnehmen, die Uhr in eine dicke Decke packen, in die volle Badewanne oder aus dem Fenster werfen – alles sinnlos.
Selbst wer die alte Küchenzwiebel zu Fall gebracht hat, dem sitzt der nächste Zeitmesser im Nacken. Das kann gleichermaßen verunsichern wie beruhigen: Wer sich auf etwas freut oder möchte, dass ein Zustand schnell vorbeigeht, bei dem dürften die Zeiger gerne ihr Tempo verdoppeln. Oder man gönnt sich den Müßiggang und genießt es, einfach Zeit zu haben. Sirrt die Eieruhr, dann sind Braten oder Kuchen bereit. Ein marokkanisches Sprichwort handelt gar vom „Zeit töten“, obwohl der Protagonist hier meist ganz unmartialisch bequem und lautlos auf einem Sessel verweilt.
Doch oft hat man auch das Gefühl, viele Sachen gleichzeitig erledigen zu müssen, um überhaupt hinterherzukommen. Hektik und Stress können die Folge sein. Eine verzwickte Nummer also, diese Zeit. Wo findet man da den Genuss?
Wir haben mit dem Wissenschaftler Jonas Geissler gesprochen, der sich selbst als Zeitraumgestalter bezeichnet. Mit „Timesandmore“ betreibt er ein Institut für Zeitberatung und hat gemeinsam mit seinem Vater Karlheinz Geissler, der sich seit 30 Jahren mit der Zeit beschäftigt und seither ohne Uhr lebt, das Buch „Time is honey“ geschrieben. Jonas Geissler ist auch Lehrbeauftragter an der LMU und der Hochschule München, einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Zeitberatung.
Herr Geissler, Zeit und Genuss: Wo und wie können beide Begriffe zueinander finden?
Ohne Zeit kein Genuss. Zeit ist die Bedingung dafür und zwar nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ. Wie muss meine Zeit gestaltet sein, damit ich genießen kann? Zwischen fünf Telefonaten und Emails kann ich nicht genießen. Das merken sie ja schon, während sie mit einem anderen beim Essen sprechen. Auf einmal schmecken sie gar nicht mehr hin. Wenn etwas richtig genussvoll ist, dann lohnt es sich, die Augen zu schließen und sich voll dem Genuss hinzugeben.
Schnelles Essen wird oft mit Stress gerechtfertigt. Kann man tatsächlich „keine Zeit“ haben?
Nein. Wir haben immer Zeit, außer wir sind tot, dann haben wir keine mehr. Was man allerdings häufig antrifft ist, dass Leute keine Zeit fürs Essen haben, sondern eben nur für etwas anderes. Eine Konsequenz davon ist, die Zeit fürs Essen zu reduzieren. Dabei muss man sich eigentlich nur an das persische Sprichwort halten, dass die Zeit, die man beim Essen verbringt, nicht auf die Lebenszeit angerechnet wird. Das lädt eher dazu ein, sich reichlich Zeit fürs Essen zu nehmen.
Welche Rolle spielt die Zeit im Alltagsleben der Menschen?
Zeit ist für uns, was für die Fische das Wasser ist. Es gäbe also gar kein Alltagsleben, wenn es keine Zeit gäbe.
Wie lässt sich Zeit in Bezug auf die Lebensqualität beeinflussen?
Die spannende Frage ist hierbei: Was ist für mich der Unterschied zwischen einem gefüllten und einem erfüllten Leben? Meist gibt es einen großen Unterschied. Im Füllen sind wir wahre Meister. In der Fülle nicht unbedingt. Die Fülle erreichen wir paradoxerweise eher durchs Weglassen, durchs Sein-Lassen. Lebensqualität ist für viele Menschen ein Zustand, indem sie sowohl wirksam als auch ausgeglichen sein können.
Zwischen chaotisch und pedantisch liegt eine breite Spanne. Was kann Zeit hier ausrichten?
Die Zeit selbst kann da gar nix machen. Wir können sie ja nicht verändern, sparen oder managen oder in den Griff bekommen. Ausschlaggebend ist unsere Haltung gegenüber der Zeit. Wenn sie eher davon geprägt ist, dass die Zeit auf uns zukommt und wir im Strom der Zeit schwimmen, dann entspricht das vielleicht eher einem chaotischen, da unvorhersehbaren Zustand. Wobei dies ja eine Kategorie eines Beobachters ist. Chaos ist Ordnung, die wir nicht verstehen!
Pedantisch klingt eher nach protestantischer Ethik und schwäbischem Gartenzwergen. Wenn wir der Illusion folgen, die Zeit kontrollieren zu müssen, dann kontrollieren wir am Ende nur uns selbst und unsere Mitmenschen. Hier müssen wir uns fragen, ob wir das wollen und ob dies der Weg zu mehr Zufriedenheit ist. In einer digitalen, vernetzten Welt ist jedenfalls der Kontrollanspruch im Grunde zum Scheitern verurteilt. Es geht darum mit der Komplexität, Gegenabhängigkeiten und Widersprüchen umzugehen.
Heute spielt das Nehmen von Zeit bei vielen Menschen wieder eine deutlich entscheidendere Rolle als noch vor einigen Jahren. Woran machen Sie das fest?
Es ist der Gegentrend zur ständigen Beschleunigung. Wir leben nach der Maxime „dynamische Stabilisierung“ – schneller Werden, um den Status Quo zu erhalten. Menschliche Rhythmen lassen sich aber nicht in gleichem Maße beschleunigen wie etwa Datentransaktionsprozesse. Das heißt, es entsteht ein Mangel und daraus ein Bedürfnis und daraus ein Gegentrend.
Nehmen wir uns genug Zeit für Genuss?
Stellen sie sich vor, sie stehen an ihrem Lebensende und stellen sich diese Frage mit Blick auf ihr gelebtes Leben. Nehme ich mir genug Zeit für Genuss? Die Antwort kann sich nur jeder selbst geben. Wenn man aber untersucht, was Menschen an ihrem Lebensende bereuen, dann sagt jedenfalls niemand, er hätte gerne mehr Zeit im Büro verbracht.
Wie wird der Faktor Zeit in der Zukunft besetzt sein?
Zeit ist ja jetzt schon für viele ein Luxusgut, da die frei verfügbare Zeit knapp ist. Das gilt aber nur für Menschen, die im Erwerbsleben stehen und das Rat Race aus „immer mehr in der gleichen Zeit“ mitmachen wollen. Die Verrrechnung von Zeit in Geld hat uns viel Wohlstand gebracht. Aber eben auch einige Probleme. Zum Beispiel Zeitprobleme, aber vor allem auch ökologische Probleme. Unsere unglaubliche Beschleunigung in den letzten 200 Jahren ist ja nur möglich, weil wir die Kosten dafür in die Zukunft verlagern. Diese Zukunft rückt näher. Das merken wir am Klima, am Verlust der Artenvielfalt und anderem mehr.
Wenn wir eine lebenswerte Welt zukünftigen Generationen erhalten wollen, brauchen wir ein Verständnis von Zeit, das über Zeit=Geld hinaus geht. Es geht um den kulturellen Wert von Zeitvielfalt. Dass eine Mußestunde oder eine Stunde Schlaf genau so viel wert hat, wie eine Stunde Erwerbsarbeit.
Herr Geissler, vielen Dank für das Gespräch.
(Das Interview führte Matthias Weißmann)
Erschienen am 4. November 2020 im Magazin „Pfeffer und Salz“, Plegge Medien Verlag GmbH, Sonderbeilage zu den Lokalzeitungen „Pfungstädter Woche“, „Ried-Information“, „Wochen-Kurier Weiterstadt“ und „Griesheimer Anzeiger“